Eingang B, drittes Obergeschoss, linker Eingang. So hat's im Email von KRAV CORE Basel geheissen. Und da stehe ich nun, voller Spannung und Vorfreude. Im Eingang müffelt es leicht nach abgestandenem Schweiss und alten Turnschuhen; es kommen Erinnerungen auf an die Schulzeit und die ungeliebten Sportstunden. Gerade noch rechtzeitig, bevor Bilder vor meinem inneren Auge auftauchen, wie ich wie ein Kartoffelsack an der Kletterstange hänge, erscheint Sylvia von KRAV CORE, und heisst mich herzlich willkommen.
Wir betreten zusammen einen grossen, hellen Raum. In einer Ecke darf ich meine Strassenschuhe und meinen Rucksack deponieren. Während ich meine Hallenturnschuhe anziehe, trudeln die anderen Mädels ein. Wir sind alle voll motiviert, aber auch etwas nervös und extrem gespannt auf das, was uns in den nächsten drei Stunden erwarten soll.
Wir acht Mädels von Tavola Rosa sitzen mit den anderen Teilnehmerinnen im Halbkreis am Boden. Vor uns unsere drei Instruktorinnen Sylvia, Claudia und Rey. Sie werden uns gleich in den theoretischen Teil mit Rollenspielen mitnehmen. Zuerst aber gibt's eine kurze "Vorstellungsrunde". Dabei wird schnell klar, warum wir alle, von der 18-jährigen Jugendlichen bis hin zur 60jährigen Psychologin, hier sind: Einige von uns haben schon sexuelle Übergriffe erlebt; jemand aus der Runde wurde von einem Stalker belästigt. Wir alle, ausnahmslos, fühlen uns nicht wohl bei Dunkelheit oder in einer fremden Umgebung, sind ängstlich, wenn wir spätabends noch alleine am Arbeitsplatz sind oder den ÖV benutzen müssen. Wir alle möchten nach diesem Kurs mit gestärktem Selbstbewusstsein und weniger Angst durch unser Leben gehen!
Bevor es aber an die körperlichen Verteidigungsübungen geht, erfahren wir, was mit unserem Körper passiert, wenn wir in eine Stresssituation kommen. Unsere Atmung wird schnell und flach, das Herz schlägt schneller und stärker. Adrenalin und Kortisol werden freigesetzt. All das kann zu Schwindel, flauem Gefühl im Magen, Muskelzittern und Schweissausbruch führen. Unsere Kehle ist wie zugeschnürt, die Bewegungen werden langsam und fahrig, wir schaffen es nicht, rechtzeitig unseren Schlüssel oder unser Telefon aus der Handtasche zu holen. Auch der Tunnelblick entsteht; wir erkennen einen möglichen Angriff sehr (zu) spät. Im schlimmsten Fall kommt es zur sogenannten Schockstarre, unser Denken und somit unser Handeln wird kurzfristig ausgeschaltet. Wir ergeben uns der Situation und resignieren.
Mit dem richtigen Mindset können wir uns effektiv schützen und Problemsituationen erkennen und entschärfen: selbstbewusst auftreten, Distanz wahren und Grenzen ziehen. Unserer Intuition und unserem Bauchgefühl vertrauen. Wenn sich etwas falsch anfühlt, dann ist es falsch. Gefahrenradar entwickeln und Deeskalation üben. Aufmerksam bleiben und unsere Umgebung im Auge behalten. Nicht mit Stöpseln in den Ohren und Blick auf unser Telefon an der Tramhaltestelle warten.
Unsere Instruktorinnen haben einige Situationen vorbereitet, welche sie uns jetzt "vorspielen". Als Beispiel diese:
Wir sitzen im Bus auf dem Fensterplatz. Ein Mann setzt sich breitbeinig neben uns, bequatscht uns, betatscht uns. Wir können uns klein machen; in die Ecke drängen lassen, uns nicht gegen die Berührungen wehren. Wir werden zum Opfer. Oder: Wir machen uns ebenfalls breit und gross, schlagen seine Hände weg, wehren uns verbal und nonverbal. Es ist KEIN Zeichen von Schwäche, wenn wir aufstehen und uns an einen anderen Platz setzen!
Nach einigen solcher Rollenspiele ist es so weit: Wir dürfen endlich auch "kämpfen"! Oder zumindest mal richtig laut schreien. Jeweils zwei von uns stehen sich gegenüber, die "Angreiferin" muss so furchteinflössend wie möglich auf die andere Person losgehen. Wir stehen also Nase an Nase da und starren uns grimmig in die Augen. Das generiert ein paar Lacher - eigentlich mögen wir uns ja...
Weiter geht’s und nun wird's richtig laut! Ich mag es, die Angreiferin zu spielen. Ich stelle mir eine Bekannte vor, die ich wirklich nicht mag und kann so mein Gegenüber richtig böse anschreien. Diese soll ihre Arme in eine bestimmte Abwehrhaltung bringen und Halt/Stopp zurück schreien. Und so wechseln sich eine Weile lang die übelsten Schimpfwörter mit Halt- und Stopp-Rufen ab.
Wir lernen, uns verbal und körperlich zu verteidigen. Wir trainieren verschiedene Schlag- und Tritttechniken, üben Stand- und Bodenkampf. Unsere Instruktorinnen erklären uns, wie wir unseren Körper gegen Schläge schützen können. Wir erkennen, dass wir uns erfolgreich zur Wehr setzen können, selbst dann, wenn der schlimmste Fall eintritt und wir schon am Boden liegen.
Es wird geschwitzt, getreten, geschrien, geboxt. Und auch wenn immer wieder gelacht und gescherzt wird, sind wir alle sehr ernsthaft bei der Sache. Wir erlernen Strategien, um mit einer gezielten Aktion aus einer brenzligen Situation zu entkommen, um ausreichend Raum und Distanz zu schaffen oder uns weitere Handlungsoptionen zu ermöglichen. Wir erkennen, wie wichtig die Bedeutung von präzisen und entschlossenen Handlungen ist.
Nach etwas mehr als drei Stunden sitzen wir erneut im Halbkreis um unsere Instruktorinnen. Mein Kopf raucht und mein Körper ist müde. Ich glaube, den anderen Frauen geht es genauso. Aber wenn ich so in die Runde schaue, meine ich zu bemerken, dass wir alle aufrechter und selbstbewusster dasitzen. Unser Fazit:
Täter suchen Opfer, keine Gegner.
Selbstverteidigung beginnt im Kopf.
Aufmerksamkeit und ein selbstbewusstes Auftreten machen uns weniger angreifbar.
Vorsicht ist besser als Nachsicht: Auf hell erleuchteten Wegen bleiben und alkoholisierten Gruppen von vornherein aus dem Weg gehen, ist der erste Schritt zur Selbstverteidigung.
Wir haben gelernt, wie wir uns deeskalierend gegenüber (potenziellen) Angreifern verhalten und wie wir uns im Ernstfall effektiv verteidigen können. Mit speziell auf uns Frauen abgestimmte Techniken können wir auch gegen einen physisch überlegenen Angreifer bestehen.
Mein persönliches Fazit:
Mein Selbstbewusstsein wurde gestärkt, ich bewege mich weniger ängstlich in der Dunkelheit oder in fremder Umgebung. Und was mir vor allem bewusst geworden ist: Wenn eine Konfliktsituation eskaliert, gibt es keine Alternative. Scheitern ist keine Option, Scheitern kann meinen Tod bedeuten. Deshalb muss mein Überleben mein absoluter Wille mit höchster Priorität sein.
Und das kennen wir Mädels von TAVOLA ROSA ja. Im Überleben sind wir verdammt gut!!!
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